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Ein Malaga an die Freude


Der Plan: Test einer neuen Gesangslehrerin.

Nach etlichen Anläufen, die durch Grippe und Heiserkeit vereitelt wurden, ist es soweit:
Januar, Regen und das Öffentlicheverkehrsmittelloch Eppendorf können mich nicht davon abhalten, abends um halb 7 zu meiner gratis Probestunde vor dem Haus der Lady zu erscheinen.
Ich stehe vorm Haus. Gesangsunterricht? Im Hochhaus?
Hm. Na dann. „9. Stock“, sagt die Stimme im Summer. Nochmal „hm“. 9. Etage und Gesangsunterricht. Die Nachbarn werden sich freuen. Im Fahrstuhl schlägt mir vertrauenerweckender 50er-Jahre Treppenhauscharme entgegen. Ich mag Linoleum. „Komm rein.“

Ich gehe hinein. Ich stehe in einem winzigen Zimmer zwischen Bettsofa, Kleiderschrank, Keyboard und Schreibtisch. Ich muss mich setzen. Ich werde ausgefragt: musikalische Erfahrung, Musikunterricht, bisheriger Gesangsunterricht, Ziele, Erwartungen, Wünsche. Ich fühle mich etwas unbehaglich, ein seltsames Gefühl, als wäre ich irgendwo zwischen Schule und Psychotherapie aus Versehen in diesem Raum gelandet. Klar, steckt ja schon im Wort „Unterricht“, mein Fehler. Aha. Fatal wäre anscheinend, wenn der frohgemute Gesangsschüler von seiner Lehrerin so etwas wie eine Dienstleistung oder Flexibilität erwarten würde, die Unterrichtsbedingungen lehren eines Besseren:

In den gesetzlichen Schulferien findet kein Unterricht statt. Bezahlt wird trotzdem. (???)

Wer nicht zum Unterricht erscheinen kann, auch wenn er davon vorher weiß, bezahlt die Stunde trotzdem, sie kann nicht verlegt werden, nur ausfallen.

Wer krank ist, hat Pech gehabt, die Stunde fällt zwar aus, aber, Überraschung, bezahlt wird sie trotzdem.

Wer krank ist und trotzdem kommen möchte, dabei aber vielleicht die Lehrerin ansteckt, verpflichtet sich, dem Unterricht fernzubleiben. Bezahlt wird natürlich? Richtig! Trotzdem!

Wenn Du selbständig bist und kurzfristig einen Job hast, kann Deine Lehrerin ja nichts dafür, natürlich bezahlst Du für diese Unpässlichkeit. Ach so, nein, Du bezahlst natürlich nicht nur Lady’s Urlaub. Die Sache wird noch komplizierter. Ja, wenn Du 14-tägig Unterricht möchtest, dann muss sie Dich an den Anfang Ihres Unterrichtsblocks schieben, sie fängt ja immer erst so um 13 Uhr an. Falls hier Zweifel aufkommen – natürlich richtest Du Dich nach ihr, denn sie gibt ja Dir gnädigerweise Unterricht, 10 Uhr wäre viel zu früh, das geht nicht. Stimmt ja, Flexibilität war ja das große Übel, das nur unverschämte, anmaßende Früchtchen erwarten, die glauben, sie wären hier Kunde. Nein, nein, Schüler sind eine große Plage. Wer keinen Vertrag unterschreibt, kriegt auch keinen Unterricht, ganz einfach. Der Gesang auf Stundenhonorarbasis, der auf der Website alternativ zum Vertragshonorar angeboten wird, scheint als Vorwand, um Schüler in den Vertrag zu locken, der vierteljährlich kündbar ist. Na dann, Fitnessstudio lässt grüßen.

Gut, dachte ich mir, dann muss das hier ja alles überdurchschnittlich toll sein, schauen wir mal, was sie so zu bieten hat. Vielleicht ist es ja durchaus gerechtfertigt. Sie gibt den Ton vor. In Akkordfolgen singe ich: „Malaga, Malaga, Malaga, Malaga, Malaga.“
„Du bist viel zu laut, nimm Druck raus!“
„Ich will doch aber Metal singen und Hardrock, das geht nicht ohne Druck, oder?“
„Ja, aber der Ton wird nicht sauber, nimm den Druck ganz raus.“
Ich singe ganz leise und sichtlich verwirrt:
„Malaga, Malaga, Malaga, Malaga, Malaga.“
„Nein, nein! Viel zu viel Druck!“
„Aber ich höre mich kaum noch…“
„Versuch’s!“
Ok. Also flüstere ich fast: „Malaga, Malaga, Malaga…“

„Sehr gut! Hast Du’s gemerkt. Wie fühlt sich das an?“
Wie sich das anfühlt? Na, wie soll es sich wohl anfühlen? ICH FÜHLE JA NICHTS MEHR! Ehrlich, ich fühle mich wie eine leere Puppe, die sinnlos vor sich hinstarrt und gar nicht mehr anwesend ist. Klar, so kann man hier auch Gesangsunterricht im 9. Stock veranstalten. Hört ja niemand. Endlos lange flüstere ich in verschiedenen Tonhöhen „Malaga“ vor mich hin. Ich werde schon ganz müde. Kann man sich selbst hypnotisieren?
„So ist es super, alles andere ist falsch. Und was magst Du jetzt an Deinen hohen Tönen nicht?“ Keine Ahnung, ich habe sie nicht mehr gehört.

Und dann soll ich ein Lied singen. Ich komme immer durcheinander, weil sie dazu ein Playback anmacht über Youtube und die Lautsprecher ihres kleinen Laptops benutzt. Ich höre die Musik kaum, oder singe ich wieder mit viel zu viel Druck? Madame macht sich dabei Notizen. Sie muss sich aufschreiben, mir nach dem Lied zu sagen, dass ich den Kopf machmal vorstrecke. Hat sie sich wohl nicht merken können. Naja, das Kurzzeitgedächtnis wird ja auch viel zu wenig geschult.
Am Ende sage ich, dass diese Bedingungen für mich inakzeptabel sind. Sie erwidert, dass sie mich über all das gerne im Vorfeld informiert hätte und es sehr ärgerlich sei, dass sie nun ihre ganze wertvolle Zeit investiert hat.
Das schlimmste, was einem Lehrer, der leider von der furchtbaren, den Berufsstand infizierende Seuche „chronische Überarbeitung“ befallen ist, passieren kann, wird wohl immer sein, sich umsonst Arbeit gemacht zu haben, ach herrje. Es tut mir so leid, es ist wirklich meine Schuld. Ich wollte bestimmt nur die gratis Probestunde ausnutzen, zu der ich nicht mal ein Playback mitgebracht habe, ich Vollhonk.
Manche Erfahrung steht symptomatisch für unsere Zeit. Aber wie kann man von sich als Musiker sprechen und Musik zu seinem Beruf machen, wenn die Musik, diese unglaubliche, freie, alles sprengende Kraft schon durch ihre Rahmenbedingungen in alles erstickende Formen und dogmatisches Zwangsverhalten gepresst wird?

Ich halt mich da ganz an die Kassierer: Denn das schlimmste ist, wenn das Bier alle ist.

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