Travel

El Cotillo


Zum zweiten Mal auf dem Weg nach Fuerteventura. Geografisches Ziel: Zwischen Marokko und Westafrika. Sobald der Flieger die Erde verlässt und ich im übergreifenden Raum bin, löst sich mein Gehirn und schwingt sich in die Meta-Ebene auf. Mich begleiten die Berliner Philharmoniker mit Gidon Kremer und Lorin Maazel auf dem iPod. Es wird großartig, da bin ich sicher: kein elendes Silvester, kein Verkriechen hinter Wohnungstüren, kein dunkelgrauer 1. Januar. Im festen Glauben daran, die zuvor mit mir diskutierten Pläne umzusetzen werde ich jedes Mal weniger „Man-müsste-Mals“ gegenüberstehen. Es war ein gutes Jahr. „Als ich für Sven arbeitete und Klavier spielen lernte“.

29. Dezember 2014.

Am ersten Tag also wandern wir mit zwei geliehenen Bretter durch die mondartige Landschaft.
Auf Fuerteventura wurden Filme gedreht, der neue „Exodus“ entstand ganz in der Nähe von El Cotillo. Kein Wunder, wer in dieser vegetationsarmen erodierten Landschaft nicht sofort die Kulisse für Science Fiction sieht, der sieht nicht richtig hin.

Der späte Nachmittag ist eine beeindruckende Tageszeit. Meine liebste. Das Licht taucht alles in ein warmes Leuchten.

Nach einer Stunde bekomme ich so viel Salzwasser ins Ohr, dass ich vermutlich eine Woche lang keine Kartoffel salzen muss. Schmerz! Meine Pause nehmen die anderen wahr, um sich ebenfalls am Strand niederzulassen. Modus: Kräfte sparen. Inzwischen nehme ich es mir selbst auch nicht mehr so übel, wenn es am ersten Tag nicht so klappt.
Heute früh dann der erste Surftag im Unterricht. Intermediate Class bei Andy, Jordi und Christiano. Wie nicht anders zu erwarten sind an diesen drei Tagen die niedrigsten Wellen des Jahres. Macht nichts, wir fahren einfach nicht zum Riff sondern zum Playa de las Mujeres. Wir zweifeln daran, ob wir jemals ankommen werden, der Motor setzt immer wieder aus. Ca. 20 Minuten und etliche Schlaglöcher später kommen wir an den Spot. Mir gefällt die Idee, die Andy heute morgen in der Theorieeinheit formuliert: „Intermediate“ bedeutet, die vollständige Kontrolle über sich und das Board zu erlangen. Kontrolliertes Absteigen, Umsicht und das Nutzen der Strömung. Mal sehen, was die Tage bringen. Wie immer auf jeden Fall ein paar Menschen, die die Welt mit anderen Augen sehen und eine andere Einstellung zum Leben haben.

30. Dezember 2014

Mir tut alles weh. Meine Arme, die Schultern, die Ellenbogen, mein Nacken, meine Rippen. Angie sagt, mit der Zeit wird es besser. Stimmt auch, stelle ich später fest. Gestern meine erste Yoga-Stunde.
„Fly in Chaturanga!“
Schweißgebadet und mit zitternden Armen sause ich durch die kühle Abendluft zum Apartment. Ich fühle mich ein bißchen wie Pudding. Vanillepudding natürlich. Hat Spaß gemacht, werde ich weiter verfolgen. Auch wenn ich mich nicht mal ansatzweise in all die Richtungen biegen kann, die die mit Puderzucker bestäubte Trainerin Ana sich vorstellt. Also: folgerichtig stechender Muskelkater. Und dann geht’s zum Riff an die Punta Blanca. Hervorragende Unterrichtseinheit. Kein guter Surftag für mich, aber zum ersten Mal in meinem Leben 1,5 Stunden durchgepaddelt. Ist das anstrengend! Völlig fertig erreiche ich am Ende der Session den Strand. Ich komme kaum aus dem Neo raus. Verdammt. Meine Arme sind immer noch zu schwach für den Rest meines Körpers. Hab Vertrauen. Es wird besser mit der Zeit. Am Ende sogar richtig gut. Wir haben erstklassige Surflehrer. Jeder bekommt die Aufmerksamkeit, die er braucht, keiner zu viel, keiner zu wenig. Andy hält mich am Fuß fest und bindet meine Leash neu und redet. Genaus so ein guter Mensch wie sein „Wir-sind-im-selben-Stadtteil-von-Athen-aufgewachsen-Freund“ Vassilis. Ich mag das alles hier und freue mich unendlich, dass wir hier sind. Die Art des Zusammenseins. Das Alleinsein. Die Jungs. Und Angie.

 1. Januar 2015

Besser kann ein erster Januar kaum sein. Auch wenn es ein schwerer Surftag für mich ist: erst stimmt eine Stunde lang meine Position im Wasser nicht und dann kommt die super Welle, nur liege ich zu weit hinten auf dem Brett. Und dann war Ebbe. Ich bin gerne hier. Ein ruhiges Silvester ohne Knaller und Zwänge. In den Wellen ist es schön. Im Kurs lerne ich so viel Neues. Draussen im Norden an der Punta Blanca ist alles anders. Ich lerne vor allem über mich. Kräfte einteilen, Ängste überwinden, feststellen, dass ich mehr kann als ich denke, ohne unmittelbare Landnähe in Wassermassen eintauchen und ein Gefühl für Strömung, Welleneigenschaften und den Ozean entwickeln.

1. Im Kreis paddeln ohne Speed zu verlieren.

2. Mich auf andere verlassen zu können schafft Vertrauen zu mir selbst und meinen Fähigkeiten.

3. Surfen bildet Charaktereigenschaften an mir aus, die mir gefallen.

4. Die meisten Dinge, die ich zu Hause besitze, vermisse ich am anderen Ende von Europa nicht.

5. Es gibt Reiher, die im Salzwasser jagen. Größere Fische als im Bramfelder See.

6. Griechen werden als Philosophen geboren. Mehr oder weniger ausgeprägt. Bei Andy mehr. Kein Gespräch ohne Meta-Ebene.

7. Dank moderner Technologien kann man Gamma Rays alte Alben auch in der Sonne hören: „Return to the land of the free…“

8. „I wanna be anything but ordinary“. Sowieso zu spät.

9. Das Gemüse aus dem Supermarkt in Cotillo schmeckt nach nichts.

10. Ein Ort kann gleichzeitig unglaublich hässlich und wunderschön sein.

11. Das Wort „Larmoyanz“ erhält manchmal ganz neue Bedeutungen.

12. Hunde, die bellen, beißen nicht.

13. Menschen hinterlassen im eigenen Leben Fußspuren, auch wenn man sich kaum kennt. Das Zauberwort bleibt „Empathie“.

14. Das Jahr braucht keine Vorsätze. Reisen, surfen, schreiben, Fotografieren. Für Sven arbeiten. Freuen. Klavier spielen. Sport machen. Es wird gut.

15. Das ideale Modell: Vier Monate im Jahr nicht in Deutschland leben. Dafür woanders arbeiten und schreiben. Fotografieren in Deutschland. Der Rest geht überall.

16. Cotillo. Neuseeland. Griechenland. England. Irland. Bali. and back. Laos. Kanada. Australien?

2. Januar 2015

Wie können Gedanken fliegen, wenn sich der Mensch unter das Diktat fremder Bestimmung stellt? Warum zermürben sich die Menschen in Büros und unter der ständigen Kontrolle des sogenannten Chefs und der sogenannten Kollegen, denen sie zu gefallen suchen? Aber das eigentlich Interessante: Warum glauben so viele Menschen daran, dass das der frei gewählte Inhalt des eigenen Lebens ist? Ebenso stellt sich die Frage:
Wieso glauben so viele Menschen, ein gläserner Algorithmus sein zu wollen, stellen alles, was sie ausmacht ins Internet und legen nicht eine Sekunde ihr Telefon aus der Hand? Wieso streben sie nach dieser Fake-Anerkennung und der Offenbarung jedes Details ihres kleinen Daseins? Was ist daran so erstrebenswert? Was begründet diese Sucht, alles darstellen zu wollen? Ich verstehe es nicht. Gleichfalls fällt es mir zusehends schwerer, die deutsche Grundhaltung des Klagens hinzunehmen. Gefällt Dir was an Deinem Leben nicht? Gestaltet jemand anderes Deine Freizeit? Hast Du ein dickes Gehalt aber kein Geld zur Verfügung? Änder was! Oder änder nichts, weil Du nicht willst oder kannst, aber dann jammer nicht! All das sind Luxussorgen. Hab Spaß. Und Vertrauen. Nur die Öffnung für anderes kann jemals etwas besser machen.
In erster Linie aber beende Deine ständige negative Urteilsfindung über andere Menschen und andere Lebensstile, die Du nicht verstehst oder fürchtest oder neidest. Verurteilung führt zu Wut, Wut führt zu Zwang, Angst, Unterdrückung, Intoleranz, Faschismus, Unglück. Ich bin für eine bunte Welt.

Vor der Surfschule steht ein VW Bus mit Flensburger Kennzeichen. „Hey, bist Du aus Flensburg?“
„Ja, ich bin aus Flensburg aber schon ein paar Monate unterwegs. Ich war erst lange in Cornwall, dann die ganze französische Küste runter und an die Algarve. Als es da zu kalt wurde bin ich hierher gekommen. Hier bleib ich jetzt erstmal ein paar Wochen, oder für immer, mal gucken.“

 

3. Januar 2015

Ein perfekter Tag. Surfen an der Punta Blanca. Die Wellen sind hoch, the spot is on. Groß und schön. Ich habe Respekt, aber ich fühle mich immer sicherer auf dem Wasser. Wir dürfen uns den Peak aussuchen. Ich paddele mit Daniela und Tina rein, wir kriegen die Welle zu dritt. Vier wunderschöne Wellen gehören mir an diesem Tag und Andy coacht mich von Welle zu Welle, es wird immer besser. Stolz und glücklich. Das ist reine Lebensfreude. All die Mühen lohnen sich am Ende, der Weg ist lang aber schön.

It’s a long way to the top if you wanna rock’n’roll.

Mein Foto ist das Bild des heutigen Blog-Eintrags. Yeah! Ein herrlicher Tag.

Es verändert sich so viel. Nach der Yoga-Einheit fühle ich mich schon wieder wie Pudding und freue mich auf das Pint Guinness im „Seahorse“ mit Blick auf das Dart-Halbfinale von Phil Taylor. Die Jungs kommen durchgewaschen vom Strand zurück, anscheinend waren am Cotillo Beach die Wellen auch groß und kräftig. Beängstigend fast. Morgen früh wird es auch so, ich bin gespannt. Micha macht die Entdeckung der Woche und findet den lokalen Bodyboarder-Peak. Huhuhuuuu, sind das große Wellen! Ideal für Paddelfußfrösche. Es ist wunderschön. Mit ganz neuen Muskelgruppen.

4. Januar 2015

Gary Anderson gewinnt in einem spektakulär spannenden Finale gegen Phil „The Power“ Taylor die Dart WM. Stand up, if you love the darts! Wir verfolgen das Match im „Seahorse“ an der Ecke. Ich bin erschöpft. Meine Haut bleibt salzig, ich mochte auch die Weißwasser-Einheit heute morgen. Er weißwasser will. Könige des Wortspiels forever! Gestern (bei Kaffee und Zitronentörtchen) läuft ein Surfer durchs Bild, der Gandhis Scherenschnitt-Gesicht auf dem T-Shirt trägt. „Mahatma?“ fragt Jack. Ja. Mahatma Glück und Mahatma Pech. Lass uns ein Label gründen. Wir verkaufen Mahatmas, Wachs-Norberts und Jordis Erfindung. Das alles wird super, ich sehe es vor mir, aber nicht zu viel verraten jetzt. Es wird ganz normal. Die Idee gefällt mir.

Ich kann es nicht verhindern, an das Ende dieser Zeit hier zu denken. Denn eins weiß ich mit Sicherheit: Zeit vergeht.

6. Januar 2015

Reefbreaks, Kaffee und Ideen. Ein guter Tag. Theoretisch weiß ich jetzt auch, wie ich die Kurve auf der Welle fahren soll. Die Trockenübung Bottom Turn klappt. Immerhin. Letzter Wellentag. Keine Welle für das Sams, aber wenn man nie da ist, wo die Welle bricht, dann soll man sich nicht wundern. Schön war’s. Ein Abenteuer. Ein kleines für den Körper und ein größeres für den Geist. Ich habe viel gelernt, auch auf dem Skateboard zum Abschluss, jetzt weiß ich, wie es geht. Üben muss jeder allein.

Am letzten Abend gehen wir mit Andy ins Marealta. Kaum zu glauben, jetzt ist die Zeit doch irgendwie vergangen. Aber vielleicht stimmt es, was Hanna sagt: „So ganz geht man ja nie.“ Dieser Teil zieht auf jeden Fall stärker als damals in Morro Jable. Ich bleibe eben ein Nordkind, und so hat eben auch hier der Norden der Insel eine Saite in mir angeschlagen. Die Ideen für das Jahr und die Zeit danach wachsen.

Ich freu mich auf mein Klavier. Und ich komme wieder, ganz sicher.

 

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